„Besuchen auch Chinesen die Ausstellung?“, frage ich den Mann am Einlass. Machen sie. Er schätzt, dass sie etwa 10 bis 12 Prozent der Besucher ausmachen. Tatsächlich, schon wenige Minuten später begegnen uns fünf chinesische Männer. Einer kommt mir bekannt vor. „Weiwei?“, fragt leise Herr P.. Ein kleiner Plausch mit dem Aktivisten und Bildhauer Ai Weiwei und dann konzentrieren wir uns auf die Porträts.
„Gesichter Chinas“ ist die Ausstellung in Europa, die zum ersten Mal die bisher auch in China wenig beachtete Porträtmalerei zeigt und einen tiefen Einblick in die chinesische Kultur ermöglicht. Also auf ins Kulturforum Berlin. Die Schau mit über 100 Meisterwerken umfasst einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren und setzt den Fokus vor allem auf die Porträts der Qing-Dynastie (1644–1912). Zwei Traditionen prägen die chinesische Malerei: Bildnisse von Ahnen sowie von lebenden Personen. Wobei Porträts im chinesischen Kunstverständnis nicht zwangsläufig als Kunst galt. Kunst betraf, anders als in Europa, vor allem Landschaften. Dass dennoch so viele Porträts gemalt wurden, hat mit dem Ahnenkult zu tun.
Denkanstoß: Europa vs China
Mit einem Denkanstoß empfängt uns der erste Raum. Links hängt das düstere Gemälde einer italienischen Dame, gemalt von Anthonys van Dyck um 1622, rechts hat ein unbekannter Künstler den Gelehrten der Ming-Dynastie, Yang Woxing, verewigt. Frontal und lebensgroß sitzt der Beamte vor uns. Er trägt ein rotes wallendes Gewand, die amtliche Alltagskleidung für Beamte. Weite Ärmel und der schwarze Hut weisen ihn als Gelehrten der Ming-Dynastie aus. So unterschiedlich die Malerei daher kommt, beide Personen legen Wert darauf, dass über die Kleidung der Status demonstriert wird.
Deutlich sieht man hier die Unterschiede beim Porträtieren: In Europa malte man häufig mit Öl, in China mit Tusche auf Papier und Seide. An den chinesischen Porträts entdeckt man häufig Aufschriften, einen plastisch modellierten Körper findet man hingegen nicht, geschweige denn einen nackten. Europäische Werke landeten schließlich im Goldrahmen. Und natürlich arbeiteten die chinesischen Künstler mit Symbolik: der fünfklauige Drachen als Symbol des Kaisers, der Phönix als Symbol der Kaiserin, Hirsche und Kraniche stehen u.a. für ein langes Leben und Bambus gilt als Metapher für einen aufrechten moralischen Charakter usw..
Ob Kaiser oder Beamte, Literaten oder einfache Dorfbewohner – die Ausstellung zeigt Menschen aller Milieus. Gesichter von Menschen zu betrachten, die vor über 600 Jahren in Dörfern gelebt haben, das ist faszinierend. Porträts von Beamten, Literaten und der gebildeten Oberschicht zeigen, anders als bei uns, meist die ganze Person mit eher kleinem Gesicht. Sie werden im Garten oder vor einem Hintergrund inszeniert, der umso großflächiger ist.
Gesichter erzählen Geschichte(n)*
Eine Auswahl:
Nr. 3 – Dawaci, hier als ein fröhlicher Mann mittleren Alters. Der Krieger der Qing-Dynastie trägt die zu dieser Zeit übliche rote Kopfbedeckung und ein blaues Hofgewand mit bestickten Drachenmedaillons. Kleine weiße Punkte erwecken die Augen des Dawaci zum Leben, sie gehen bereits auf den Einfluss von westlichen Malmethoden zurück. Warum der Mann so strahlt? 1755 startete der Qianlong-Kaiser einen Feldzug gegen den kriegerischen Clan von Dawaci, nahm ihn fest und brachte ihn nach Peking. Anstatt ihn jedoch hinzurichten, gab der Kaiser ihm 1756 eine Mandschu-Prinzessin zur Frau. In jenem Jahr wurde dieses Porträt gemalt.
Nr. 4 – Dieses informelle Porträt der Kaiserinmutter Xiaozhuangwen erzeugt den Eindruck von Distanz, da die ikonische Pose eine distanzierende Wirkung hat. Die Gemeinsamkeiten in der Malweise und der Physiognomie der Frontalansicht und des oben gezeigten formellen Prunkporträts der Kaiserinmutter (ebenfalls Nr. 4) legen nahe, dass das kleine Bildnis für das ganzfigurige Porträt auf Seide übertragen wurde. Das Staatsgewand, die Phönixkrone sowie die Accessoires im Hofgemälde wurden später hinzugefügt.
Nr. 6 – Dieses Bild gilt als das außergewöhnlichste Selbstporträt in der Geschichte der klassischen chinesischen Kunst. Direkten Blickkontakt aufnehmend, setzte sich Ren Xiong über viele Konventionen hinweg, indem er die übliche Garten- oder Studio-Szenerie im Hintergrund wegließ. Der Künstler, eine zentrale Persönlichkeit der so genannten Shanghai-Schule, starb im Alter von nur dreiundvierzig Jahren an Tuberkulose.
Und – lohnt es sich?
Wer es irgendwie ermöglichen kann, sollte vorbei schauen, schon weil es die erste Schau in Europa ist, die sich derart umfassend diesem Thema nähert. Die Ausstellung ist auch für Einsteiger nachvollziehbar strukturiert und lockt neben den Porträts mit immer neuen kleinen Entdeckungen: Brautkrone, Filme oder aktuelle Foto-Porträts illustrieren den gesellschaftlichen und religiösen Kontext.
Während die obere Halle den Porträts adliger Personen, Beamten, Künstlern, Kriegern und Priestern gewidmet ist, liegt der Fokus in der unteren Sonderausstellungshalle auf Privatpersonen und jenen Familien- und Ahnenporträts, die nur an Feiertagen ausgerollt wurden. Auf jeder Etage kann man sich ein Informationsheft ausleihen, das u. a. die Geschichten zu den Porträts liefert. Die eine oder andere Sitzgelegenheit lädt dazu ein, sich in Ruhe mit dem Inhalt zu beschäftigen.
„Eine gelungene Ausstellung“,
finden wir.
„Sehr interessant und besonders schön“,
sagt an diesem Sonntag Ai Weiwei.
Gesichter Chinas
Eine Sonderausstellung organisiert vom Museum für Asiatische Kunst – Staatliche Museen zu Berlin und dem Palastmuseum Beijing in Kooperation mit dem Royal Ontario Museum Toronto.
Porträtmalerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368–1912)
12.10.2017 bis 07.01.2018
Kulturforum
Matthäikirchplatz, 10785 Berlin
Veranstalter:
Museum für Asiatische Kunst
Website
Quelle:
* Begleitheft vom 10.12.2017 | Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin