Jedes Jahr am 4. oder 5. April (2021), selten auch am 6. April, gedenken die Chinesen ihrer Toten. Wenn in China das Qingming-Fest ansteht, das Totenfest, dann eilen die Familien schleunigst zu ihren Verstorbenen und putzen die Familiengräber. Also auch meine Familie in Ningbo. Wir feiern mit den Toten, es geht recht munter zu. Die Ahnen sollen es im Jenseits gut haben, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, die Lebenden zu belästigen. … Was passiert da?
Wir fahren mit einem Cousin zum Friedhof, der eine Stunde außerhalb Ningbos in einer Hügellandschaft liegt: Der Cousin wirkt fahrig, und das keineswegs, weil aus dem MP3-Player seiner Frau unentwegt buddhistische Mönchs-Gesänge tönen, sondern weil die Gräber erst einmal gefunden werden wollen. Ningbo hat sich innerhalb eines Jahres derart verändert, dass er befürchtet, die Ausfahrt aus der Stadt zu verpassen. … Verspätet eilen wir zu unseren 20 Verwandten, die schon an den Gräbern zugange sind. Ein jüngerer Onkel von Herrn P. überpinselt mit leuchtendem Rot verblasste Schriftzeichen am Grabstein seiner Eltern. Andere bleiben schwarz. Wenig später halten wir je drei Räucherstäbchen in den gefalteten Händen, verbeugen uns drei Mal vor dem Grab und wünschen den Toten eine gute Zeit, dort, wo sie jetzt sind. Eine Tante packt Tüten mit Äpfeln und Bananen auf das steinerne Tischchen vor dem Grabstein, eine andere legt grüne Reis-Kuchen dazu. Die nächste Verwandte stapelt hinter dem Grabstein ein Dutzend gelbe Tüten mit Papiergeld aufeinander und die buddhistische Cousine fällt betend auf die Knie. Weiter geht’s, zum Grab eines älteren Bruders. Und auch dort: Räucherstäbchen, Verbeugen, Früchte auf den Tisch, … . Plötzlich qualmt’s. Und das ordentlich. Damit sich die Ahnen auch im Jenseits etwas leisten können, verbrennt die Familie das Papiergeld.
Wir feiern mit den Toten
Das Totenfest in China ist keineswegs nur ein Tag der Trauer. Schon auf dem Friedhof verputzen wir die ersten Opfergaben. Dreieckige Stücke eines Kuchens aus einer Plastik-Schachtel. Es schmeckt. Es wird gelacht. Ein anderer Cousin bringt uns zu einem Restaurant, in dem sich die Familie versammelt und dann auch gemeinsam isst. Für den weiteren Tag unternehmen die Verwandten nichts mehr miteinander. Zu gewagt, nach einem Tag am Grab. Es bringt Unglück. Wer will das schon?
Was ich schon immer über diesen Tag wissen wollte …
Fragen rund um die Zeremonie? Kein Problem. Zwei Familien aus Ningbo sind so lieb, mir alles zu erklären:
◾️ Wieso zündet jeder drei Stäbchen an und verbeugt sich drei Mal?
„Das geht auf die drei Schätze im Buddhismus zurück. Zuerst soll man sich von allen schlechten Gewohnheiten abgrenzen. Ziel ist es, ein reines Herz zu bekommen. Jetzt kann man zweitens entspannen und ruhig werden, um sich dann drittens geistreich zu fragen: Was ist der Sinn des Lebens?“
◾️ Einige Schriftzeichen auf den Grabsteinen sind rot, andere schwarz. Was bedeutet das?
„Auf dem Grabstein befinden sich neben den Namen der verstorbenen Eltern, drei weitere Reihen mit Schriftzeichen, zu lesen von oben nach unten. Reihe 1: die Namen der vier Söhne, Reihe 2: die Namen der drei Töchter, Reihe 3: die Namen der vier Enkelsöhne. Alle tragen den Familiennamen Li, auch die Töchter, weil sie ihre Familienamen in China auch nach der Hochzeit behalten. Der Li-Name bildet die Wurzel der Familie und leuchtet daher in Rot. Rot sind auch die Vornamen aller noch lebenden Kinder und Enkel. Stirbt jetzt beispielsweise die Mutter, steht das Zeichen für Li weiterhin in Rot auf dem Stein, während sich der Vorname in Schwarz wandelt. Denn der Rufname ist austauschbar.“
◾️ Es geht hier recht fröhlich zu, so im Vergleich zum Totensonntag in Deutschland. … .
„Während die Räucherstäbchen abbrennen, essen die Toten. Das ist doch sehr schön. …“
◾️ Fotografieren am Grab – lieber nicht. Was passiert da?
„Beim Fotografieren nimmst du die negative kalte Energie mit deiner Kamera auf. Sie bleibt im Bild und damit bei dir. Das bringt Unglück.“ …
◾️ Und wenn ich unwissentlich auf den Auslöser gedrückt habe?
„Jaaaa, wenn du nicht dran glaubst, dann passiert dir auch nichts.“ 🙂 (Chinesischer Pragmatismus pur.)
Das Qing-Ming-Fest
(chinesisch: 清明节 | Pinyin: qīng míng jié)
Traditionell gedenkt man Anfang April (meist am 4.4. oder 5.4., selten auch am 6.4.) beim Qingming (klar und hell)-Fest, auch Totenfest genannt, der Ahnen. Dann erfolgt ein ausführlicher Frühjahrsputz und Papiergeld wird verbrannt, zunehmend auch andere lebensnotwenige Gegenstände. Gefaltet aus Papier sollen sogar Waschmaschinen, Autos und Smartphones unter den Geschenken sein. Anders als bei uns ‚Langnasen‘ geht es beim Friedhofsbesuch in China recht munter zu. Die Ahnen sollen es im Jenseits gut haben, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, die Lebenden zu belästigen.
Mythe: chinesische Geister und Dämonen
Von Geburt an trägt man nach chinesischer Weisheit zwei Seelen in sich, die zusammen die Lebensenergie Qi ausmachen: die Yang-Seele Hun und die Yin-Seele Po. Stirbt man, trennen sich die beiden. Während die Hun-Seele gen Himmel steigt und dort zu einem Ahnen wird, bleibt Po im Grab zurück. Stirbt jemand einen gewaltsamen Tod oder gibt es Streit, dann klappt das mit dem Trennen der Seelen nicht. Ärger ist vorprogrammiert. Den gibt es auch, wenn die Hun-Seele im Jenseits darben muss, weil es die Nachkommen mit den Opfergaben nicht so genau nehmen. Dann werden die Dämonen ungemütlich, wandern umher und drangsalieren die Lebenden. … [mehr]
Interessant zu wissen, dass sich auf einem chinesischen Grabstein neben dem Namen des Verstorbenen auch noch die Namen seiner Söhne, Töchter und Enkel befinden. Ich und meine Freundin besuchen oft die örtlichen Friedhöfe während unserer Reisen. Wir finden auch die chinesische Bestattungskultur sehr interessant und würden bei Gelegenheit einen chinesischen Friedhof besuchen.
Wunderbarer Plan, so einen Besuch kann ich nur empfehlen. Vielleicht sogar zum chinesischen Totenfest?
Liebe/r Pan-Da,
ich habe schon viele „dritte Stäbchen“ angezündet, aber noch immer kein Ergebnis beim Nachdenken über den „Sinn des Lebens“ erreicht.
Was sollte ich tun?
Der deutsche Georg
Lieber Georg,
was ist der Sinn des Lebens? Ob mit oder ohne Räucherstäbchen, ich glaube, seit Jahrtausenden zerbrechen sich Philosophen darüber den Kopf. Vergeblich! Eine klare Antwort auf diese Frage gibt es vermutlich bis heute nicht.
Möglicherweise kommt man für sich einen kleinen Schritt weiter, wenn man sich selbst fragt: Was ist für mich ein sinnvolles Leben? Was soll ich tun, wie soll ich mich verhalten, um mein Dasein sinnvoll zu gestalten? Mir scheint Lebensfreude wichtig zu sein, eine sinnstiftende Arbeit, das Gefühl, geliebt zu werden und auch selbst Freude und Liebe zu geben. Dann ist es gut, da zu sein. Schmalziger Schluss? Egal.
Alles Gute dir,
herzlichst Catrin