„Es ist beängstigend“, gesteht mir dieser Tage eine liebe Bekannte am Telefon, die im Oktober mit einer 20köpfigen Reisegruppe in China unterwegs war. Arrangiert von einem bayerischen Reisebüro ist die Truppe quer durchs Land getourt, an der boomende Ostküste entlang bis nach Hongkong, mit Abstechern ins Binnenland. Sie, die nicht im Verdacht steht, zart besaitet zu sein, ist bestürzt vom Lärm, vom Beben des Landes, von seiner Größe. „Ich bin froh, wieder in meinem Liliput-Deutschland zu sein“, lautet ihr Fazit.
Was sie erlebt hat, treibt sie um. „Weißt du, dass die Chinesen Amerika aufkaufen?“, erkundigt sie sich bei mir und „was wohl passiert, wenn diese Entwicklungs-Blase platzt?“ Ach ja, und der Mao spielt keine Rolle mehr, habe ihr eine Reiseleiterin versichert. Hm. Dann geht es um die Schickeria in Shanghai und um städtische Männer, die ihrer Angebeteten zuerst eine Wohnung kaufen müssen, bevor sie zur Ehe schreiten können. Was für Probleme! Dem verzweifelten jungen Mann hat sie geraten, sich seine Zukünftige auf dem Land zu suchen. …
Die drei Reisewellen
Vermutlich hat meinen China-Azubi niemand vorgewarnt, als er den Oktober für seine Urlaubszeit wählte. Urlaub ist im Reich der Mitte noch ein relativ junges Unterfangen. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit galt: einmal im Jahr wird gereist, und das zum Neujahrsfest nach Hause. Mit dem aufkommenden Wohlstand und den behördlich um die Feiertage verordneten Urlaubstagen, packen die Chinesen auch an anderen Tagen ihre Koffer und fahren nicht mehr nur nach Hause, sondern in die Berge, ans Meer und in ihre historischen Städte. Dreimal im Jahr befindet sich das Land seitdem im Ausnahmezustand: zum Neujahrsfest, dem Tag der Arbeit am 1. Mai und – dem Nationalfeiertag am 1. Oktober. Und wenn 1,3 Milliarden Menschen in Bewegung geraten, dann ist die Hölle los.
Die Luftblase
Mit ihrer Befürchtung, wann wohl die Blase platzen mag, reiht sich die Bekannte in eine Riege westlicher Ökonomen. Doch es sieht immer weniger danach aus, dass genau das passieren könnte. Frank Sieren, Politologe, Wirtschaftsexperte und seit 1994 in China lebend, hat das Szenario umkreist. Er schreibt:*1
„… alle drei möglichen Szenarien eines Zusammenbruchs der Wirtschaft nach einer dramatischen Überhitzung greifen im Falle Chinas nicht. Die erste Variante kennen wir von den Internetunternehmen. In Erwartung einer prosperierenden Zukunft werden große Summen auf dem Aktienmarkt für Unternehmen gezahlt, die noch nicht einmal Gewinne machen. Das ist in China nicht der Fall, sowohl die Volkswirtschaft, als auch die wichtigsten Unternehmen sind sehr profitabel. Die zweite Variante: Von vielen Produkten wird mehr hergestellt, als verkauft werden kann. Weil diese Produkte niemand haben will, müssen sie unter Wert auf den Markt geschleudert werden. Die Kunden warten, …. Eine Abwärtsspirale entsteht. Die Unternehmen gehen darüber Bankrott. Auch diese Konstellation trifft auf China nicht zu. Wie sich in der Weltfinanzkrise gezeigt hat, waren die Unternehmen gut in der Lage, mit dem Problem umzugehen, … . Die dritte Blase schließlich ist eine Kreditblase. Man leiht sich immer mehr Geld, um es mit dem Versprechen immer höherer Zinsen zurückzuzahlen, bis man Pleite geht … . China jedoch leiht sich kein Geld, im Gegenteil: China verleiht es. …“
Mao ist nicht mehr
Mao spielt keine Rolle mehr. Was auch immer die Reiseleiterin zu dieser prinzipiellen Aussage verleitet hat, man könnte als Antwort die Menschenmassen im Mausoleum beschreiben, wie sie bei ihrem Besuch Berge an Blumen hinterlassen, man könnte Fotos sprechen lassen.
Von den Lehren seines roten Buchs haben sich die Chinesen abgewandt. Sicher. In ihrer Erinnerung aber scheint er sehr gegenwärtig zu sein, ohne dass seine fürchterlichen ideologischen Kampagnen, sein Machtanspruch und seine Grausamkeiten verschwiegen würden. Sie haben ihren eigenen Weg im Umgang mit diesem Mann gewählt. Man kann auch fragen: Hat er nicht das zerfallende Reich zusammengeschweißt, menschliche Gleichheit beschworen, patriarchalischen Ballast abgeworfen und vor allem – den andauernden Demütigungen seines Volkes eine Ende bereitet?
Umzug in ein besseres Leben
Und da hätten wir noch den jungen Reiseleiter, der sich doch entspannen und seine Zukünftige auf dem Land suchen solle. Das ist sie, meine immer um Lösungen bemühte liebenswerte Pragmatikerin. Was, wenn die potentiellen Ehekandidatinnen ihr Glück bereits woanders suchen? Sie ziehen in die Städte, wünschen sich Autos, eine Wohnung, wollen soziale Absicherung, Perspektiven und keinesfalls arm sein. Sie können diese Ansprüche stellen, weil u. a. in China auf 100 Frauen 118 Männer kommen und weil strikte Regulierungen bei der Wohnungssuche zunehmend wegfallen.
„Das Land ist beängstigend“, hatte meine China-Novizin immer wieder am Telefon betont. Mit diesem unguten Gefühl steht sie nicht allein da, jedenfalls nicht in Deutschland. Dazu gibt es sogar eine internationale Studie*2 von 2014: danach ist die Furcht der Deutschen vor diesem Land an keinen Details festzumachen, die Angst schwer zu fassen. Profunde Kenntnisse über China besitzen 7 Prozent. Wenn sie wüsste, meine Liliput-Liebhaberin, sie lässt mein Credo wackeln. Selber hingehen und hinschauen ist die beste Möglichkeit, sich einem anderen Land und seinen Menschen zu nähern und mit ein paar Klischees aufzuräumen – es trifft nur bedingt zu. Wer einen Teil eines Landes gesehen hat, kennt es noch nicht. Und wer einen Teil kennt, kann noch lange nicht davon ausgehen, auch den Rest zu verstehen.
Quellen:
*1 – Frank Sieren: Der China-Schock: Wie Peking sich die Welt gefügig macht; 01.02.2008, S.20
*2- Deutschland und China – Wahrnehmung und Realität: Die Huawei-Studie 2014 | abgerufen am 29.11.2014
Wohl wahr! Tolle Pointe 🙂
Danke!