Mythos Chinesisch oder Filter im Kopf

„Chinesisch ist eine schwere Sprache,“ behaupten die einen. Schon ansatzweise den richtigen Ton der Worte zu treffen, gilt als ausgemachte Gemeinheit. Nicht nur Sprach-Novizen, auch Chinesisch-Sprechende pflegen diesen Mythos, und sichern sich damit die Bewunderung ihrer Zuhörer. „Chinesisch ist eine der einfachsten Sprachen der Erde,“ behaupten die anderen. Weil auf wundersame Weise Sätze gelingen, die praktisch ohne Grammatik auskommen: ohne Konjugationen, ohne Deklinationen, ohne Fälle, ja sogar ohne Tempi. Wenn du sagen willst, dass etwas gestern passiert ist, dann sage ‚gestern‘. Fertig. Das Verb kannst du in Ruhe lassen. (siehe Satz rechts, passend für den Neujahrsmorgen  😉  )

Das Phänomen

An der Stelle kommt nun ein psychologisch interessanter Vorgang ins Spiel. Selbst gestandene Sprach-Talente berichten immer wieder davon, dass auch unter Chinesen die Vermutung weit verbreitet ist, dass ihnen das Chinesische quasi in die Gene gestrickt sei. Von einer Langnase erwartet demzufolge auch niemand, dass sie mit ihnen in der Landessprache kommuniziert, weil es ja unmöglich Chinesisch sein kann, das diese da von sich gibt. Das ganze funktioniert auch umgekehrt, wie Kai Strittmatter schreibt:

„John Steinbeck erzählt in »Jenseits von Eden« vom chinesischen Farmarbeiter Lee, der sein Leben lang das gebrochene Pidginenglisch der Einwanderer plappert – bis Farmer Samuel eines Tages durch Zufall entdeckt, dass der in Kalifornien geborene Lee des feinsten Englisch mächtig ist. Der verblüffte Samuel stellt Lee zur Rede und fragt ihn, warum in aller Welt er zu den Leuten im Dorf nicht in normalem Englisch spreche, woraufhin Lee ihm erklärt, er habe dies früher wohl versucht, sei dann aber grundsätzlich ignoriert oder nicht verstanden worden: weil die Leute von einem Chinamann wie ihm einfach kein Englisch erwarteten. »Du siehst, was ist«, lobt Lee seinen Boss Samuel. »Die meisten Menschen aber sehen nur, was sie erwarten.«“ (Kai Strittmatter: Gebrauchsanweisung für China, Piper Verlag, 3. Auflage 2005, S. 15)

Kai Strittmatter

In diesem Sinne und keineswegs nur bei Sprachen anzuwenden:
Vorsicht vor den Filtern im eigenen Kopf.

Und – ein gesundes, gelingendes 2017!

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